Reife Kontinuum: Vision eines konstruktiven Miteinanders

Wenn man sich fragt, ob und wie sich Menschen in persönlicher oder sozialer Hinsicht entwickeln, helfen oft Beobachtungen und Modelle aus der Praxis weiter. Im Folgenden wollen wir eine Idee von Stephen R. Covey vorstellen, die er „Reife-Kontinuum“ nennt. Hier lässt sich über die dritte Stufe der Synergie / Interdependenz gut beschreiben, welches Ziel wir in der Zusammenarbeit und im Umgang mit anderen Menschen anstreben.

Angemerkt sein noch, dass wir Coveys Grundidee anhand eigener Erfahrungen in diesem Artikel noch etwas erweitert und modifiziert haben. Das Original können Sie in seinem Buch „Die 7 Wege zur Effektivität“ nachlesen.

Weshalb ist das Reife-Kontinuum für uns interessant?

Themen wie Selbstfindung, Selbsterschaffung oder Selbstverwirklichung sind heute sehr populär und werden von vielen Gruppen aufgegriffen und – je nach Ideologie – unterschiedlich beantwortet. Man könnte einen ganzen Supermarkt mit Büchern füllen, die uns Antworten anbieten, wie wir uns als Menschen entwickeln können oder sollen.

Man findet für jede Geschmacksrichtung eine Heilsbotschaft, die uns erklärt, was wir zu tun oder zu machen haben, um ein erleuchteter, wissender, effizienter oder glücklicher Supermann / -frau zu werden. Man tut so, als wären alle Lösungen bereits gefunden und man braucht sich als Kunde nur noch zu bedienen.

Im Gegensatz zu Anderen geht es uns nicht darum, eine neue Wahrheiten zu verkünden oder unseren Standpunkt zu etablieren. Da, wo andere fertige Antworten präsentieren, sehen wir viele ungeklärte Fragen. Welche Potentiale und Entwicklungsmöglichkeiten uns als Menschen noch offen sind, ist ungeklärt. Wir stehen nicht am Ende, sondern am Anfang unserer Reise zu dem, was wir als Menschen sein können.

Unser Weg sich offenen Fragen stellen zu wollen, ist die Gruppenintelligenz zu nutzen, die in der dritten Stufe der Synergie beschrieben wird. Dies ist unser Ziel – unsere Vision. Damit verständlich wird, was die einzelnen Stufen sind, wie sie aufeinander aufbauen und welche unterschieldichen Ziele sie verfolgen, haben wir im Folgenden alle drei Stufen des „Reife-Kontinuums“ im Überblick dargestellt.

1. Abhängigkeit (Dependenz)

Betrachtet man die natürliche Entwicklung von Menschen, so beginnen wir unser Leben als Säuglinge zuerst in völliger Abhängigkeit. Im Laufe der Jahre entdecken wir, dass wir selbst unterschiedliche Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten entwickeln können, die unsere Abhängigkeit verringern. Bei genauerem Hinsehen können wir viele unterschiedliche Ebenen (z. B. körperlich, geistig, emotional, spirituell, finanziell usw.) der Abhängigkeit entdecken.

Solange jedoch nur andere unsere Probleme auf einer bestimmten Ebene lösen, bleibt unsere „Erlebniswelt“ „Du-bezogen“. „Du-bezogen“ in dem Sinne, dass Andere die Verantwortung für unser Erleben der Welt tragen – das mächtige „Du“ entscheidet, wohin die Reise geht.

Meist beginnt im Teenageralter der Drang nach mehr Unabhängigkeit und Selbständigkeit zu wachsen. Die meisten Menschen komplettieren in dieser Zeit ihren Werkzeugkasten an Problemlösungsstrategien zumindest soweit, dass sie alleine überlebensfähig sind. Allerdings ist es sehr unterschiedlich auf wie vielen Ebenen wir unabhängig werden. Manche legen sich nur ein Minimalset zu, während andere sich auf vielen Ebenen emanzipieren.

Insofern ist es Unsinn zu fragen, ob ein „Mensch“ als Ganzes abhängig oder unabhängig ist, denn jeder von uns hat offensichtlich genug Problemlösungsstrategien zum Überleben entwickelt. Interessant ist, im Detail zu fragen, ob eine Person bezüglich eines bestimmten Themas – z. B. finanziell, emotional, in seiner Meinung oder Entscheidungsfindung usw. – sich als abhängig oder unabhängig darstellt.

Da es in unserer hochkomplexen Gesellschaft nahezu unmöglich ist, in allen Bereichen unabhängig zu sein, stehen wir vor der Wahl, in welchen Bereichen wir Passagier bleiben bzw. in welchen wir Pilot werden wollen.

Da wir weder alle Dienstleistungen noch Güter, die wir zum (Über-) Leben brauchen selbst bereitstellen können, bleiben wir als Konsumenten in vielen Bereichen voneinander abhängig. Allerdings haben wir eine Wahl, ob wir kritiklos konsumieren oder nach eigenen Wertmaßstäben (z. B. Nachhaltigkeit, Fairtrade, Umweltschutz) steuern, von wem wir abhängig sein wollen.

Ein typisches Indiz für die negative Haltung eines „Abhängigen“ in der Kommunikation ist, dass man sich selbst als „Opfer der Umstände“ sieht. Man übernimmt nicht die Verantwortung für die Konsequenzen eigener Handlungen und Entscheidungen. Bei Fehlschlägen schiebt man gerne mit einem „Du bist schuld!“ Anderen den schwarzen Peter zu.

In der Gesellschaft übernehmen wir als Abhängige eine passive Rolle – z. B. von Mitläufern, Helfern, Untergebenen, Sympathisanten, Mitarbeitern oder Konsumenten. Diese Rolle bildet die Basis jeglicher hierarchisch organisierten Zusammenarbeit, die produktiv ein gemeinsamens Ziel realisiert. Wir können so Gleichgesinnte unterstützen oder Projekte fördern, auch wenn wir nicht die Kompetenz haben, es selbst zu organisieren oder alleine durchzuführen.

2. Unabhängigkeit (Independenz)

Sobald wir in einem Bereich kompetent werden, genügend Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten entwickeln, haben wir die Möglichkeit uns zu emanzipieren – unabhängig zu werden. Wir können die Ergebnisse selbst willentlich erzeugen und kontrollieren und übernehmen die Verantwortung als „Macher“.

Für Covey geht dieses Stadium mit einer gesteigerten „Ich-Bezogenheit“ einher – wir schreiben uns selbst die Konsequenzen unserer Entscheidungen und Handlungen zu. Unser gesteigertes Selbstbewusstsein drückt sich in der Kommunikation in Sätzen wie: Ich kann das – Ich bin verantwortlich – selbständig – kompetent – kenne mich aus – habe die Kontrolle – habe recht usw. – aus.

Diese ersten beiden Stufen bilden die Basis jeder Hierarchie. Die „Abhängigen“ befinden sich unten, während sich die Macher – als Führer, Chef oder Lehrer – oben auf der Leiter ansiedeln. Im Optimalfall entwickelt sich eine harmonische Zusammenarbeit zwischen den Unabhängigen und Abhängigen, da jeder Macher auch Unterstützer, Helfer, Untergebene oder Kunden etc. braucht, um seine Ideen zu realisieren.

Die Schattenseite dieser hierarchischen Struktur ist, dass sie leicht in Machtkämpfe übergehen kann. Man sieht dann andere kompetente Personen oder Mitarbeiter als Gefahr und nicht als wertvolle Partner an. Kompetenz wird zur Konkurrenz – statt produktiv zusammen zu arbeiten, vergeudet man seine Zeit mit Statuskämpfen. Daher neigen übermäßig Ich-bezogene-Menschen zur Rechthaberei, Narzissmus, Mobbing oder Kompetenzstreitigkeiten, um den eigenen Platz in der Hierarchie zu verteidigen.

Die hohe Kunst dieser Stufe könnte man mit Augustus Worten: „Ich bin der erste Bürger, weil ich meinem Volk diene“ ausdrücken. Man wird zum Stellvertreter einer Idee, weil man fähig und verantwortungsbewusst genug ist, zu realisieren, was andere sich „nur“ wünschen.

3. Synergie (Interdependenz)

Unter Synergie verstehe ich in diesem Kontext das Zusammenwirken von Menschen, um sich gegenseitig zu fördern und einen gemeinsamen Nutzen anzustreben. Dies beruht auf der Erkenntnis, dass wir Menschen alle in unserem Dasein aufeinander eingestellt und angewiesen sind. Wir erkennen unsere wechselseitige Abhängigkeit voneinander (Interdependenz) und beginnen sie als Ressource zu nutzen.

Covey beschreibt diese Stufe als eine „Wir-Bezogenheit“ im Sinne von „Wir schaffen das – Wir kooperieren – Gemeinsam sind wir stark – Unsere gemeinsamen Talente sind größer als die Summe der Einzelteile. Das Paradigma der Gruppenintelligenz ersetzt das Wissen und die Führungskompetenz des Einzelnen.

Im Optimalfall bildet sich eine Synergie unter kompetenten, gleichwertigen und bereits unabhängigen Partnern aus, die sich auf ein Ziel geeinigt haben und dieses aktiv und kreativ anstreben. Es geht nicht mehr darum, wer eine Problemlösung liefert, sondern darum, wie gut sie ist.

Zweifel, kompetente Personen, Änderungen von Paradigmen (z. B. neues Wissen), Kritiker sind keine Bedrohung mehr, von dem sich das System abschotten muss. Sie werden eher umgekehrt zum wertvollen Input, an denen sich die Qualität einer Problemlösung messen lässt.

Die Basis dieser Stufe ist die Fähigkeit zur verständigungsorientierten Kommunikation unter den Beteiligten, was Covey mit den Worten „Erst verstehen, dann verstanden werden.“ ausdrückt. Nur wenn wir miteinander (statt gegeneinander) reden, aufeinander hören (statt Andere zu ignorieren) und füreinander (statt gegeneinander) handeln, kann eine konstruktive Streitkultur entstehen, die ein echtes Team ausmacht. Erst durch dieses partnerschaftliche Verhalten entfällt die Notwendigkeit einer Hierarchie und kann durch einen „Austausch unter Gleichen“ ersetzt werden.

Im Team gibt es einen fließenden Wechsel zwischen führen und geführt werden, d. h. man braucht in seinem Wissensgebiet einerseits die Fähigkeit zu führen, während man sich umgekehrt bei Themen führen lässt, bei denen man selbst weniger kompetent ist. Oder anders – ein Teammitglied muss die Fähigkeit haben, je nach seinen Stärken und Schwächen, die Rollen zu wechseln.

Diese Fähigkeit zur konstruktiven Streitkultur ist sowohl die größte Stärke, als auch die größte Schwäche eines Teams. Denn eine gemeinsame Willensbildung kann schon von einem destruktiven Teilnehmer torpediert und vereitelt werden. Daher muss auch ein Team nach eigenen Wertmaßstäben Grenzen ziehen und erkennen, welches Verhalten destruktiv wirkt und es wirksam verhindern oder sanktionieren können.

Der große Vorteil eines funktionierenden Teams ist, dass es eine wesentlich höhere Komplexitätsverarbeitung leisten oder auch Lösungen in komplexen Problemstellungen finden kann, die für einen Einzelnen kaum oder gar nicht machbar wären. Die Motivation ein Ziel zu erreichen ist größer, als die eines einzelnen „Machers“, da sie von vielen Personen getragen wird.

Wie erzeugt man Synergie / Interdependenz in der Praxis?

Damit Menschen als Team konstruktiv zusammenarbeiten können, müssen einige Voraussetzungen erfüllt sein. Die Qualität der „Gruppenintelligenz“ ist abhängig von der Kompetenz der Einzelnen und ihrer Fähigkeit verständigungsorientiert zu kommunizieren. Es ist ein labiles Gleichgewicht, dass von Füreinander gestärkt und von Gegeneinander zerbrochen wird.

Damit gegenteilige Perspektiven oder Meinungen sich nicht bekriegen, sondern befruchten, braucht es eine konstruktive Streitkultur, bei der die Qualität der Lösung im Vordergrund steht. Es muss möglich sein Argumente zu formulieren, zu begründen, zu vergleichen und zu prüfen. Es braucht die Bereitschaft des Einzelnen, sich selbst und die eigenen Modelle hinterfragen zu lassen und die Neugier, nach neuen Erkenntnissen zu suchen.

All dies kann man Menschen natürlich nicht verordnen. Aber man kann einen Rahmen bieten, in dem eine konstruktive Streitkultur wachsen und sich entfalten kann. Insofern ist auch jeder, der sich dieser Herausforderung stellen will, bei uns als Teilnehmer oder Vortragender willkommen.